Pionierflächen

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Text Verein biodivers
Publikation Dezember 2022




Inhaltsverzeichnis

Das Wesentliche kompakt

Lebensraum Pionierflächen kompakt – ausgewähltes Wissen in Kurzform
Was gehört zu den Pionierflächen?
  • Pionierflächen sind von offenem Boden geprägte Lebensräume mit lichtliebenden Krautpflanzen.
  • Es gibt natürliche Pionierflächen und vom Menschen gestaltete Ruderalfluren.
  • Pionierflächen gibt es in vielen Ausprägungen, von feucht bis trocken und von nährstoffreich bis -arm.
Was macht Pionierflächen für die Biodiversität wertvoll?
  • Der offene Boden dient zahlreichen Artengruppen als Lebensraum.
  • Pionierflächen bieten über die ganze Vegetationsperiode ein Blütenangebot und ganzjährig Strukturreichtum.
Wie können Pionierflächen erhalten und gefördert werden?
  • Zur Erhaltung bestehender Flächen am wichtigsten sind mehr Toleranz und weniger Ordnungssinn und Herbizide.
  • Ruderalfluren lassen sich an verschiedensten Orten mit wenig Aufwand schaffen, sowohl im Siedlungs- und Industriegebiet als auch Landwirtschaftsland.
  • Die richtige Pflege ist ein wichtiger Faktor.
  • Ruderalflächen können als BFF angemeldet werden.

Einleitung

Bei Pionierflächen handelt es sich um von offenem Boden geprägte Lebensräume mit vorwiegend lichtliebenden Krautpflanzen. «Ruderal» leitet sich vom lateinischen Wort «rudus» ab, was im übertragenen Sinn ‘Kies’, ‘Schotter’, ‘Schutt’, umschreibt.

Brandes (2007) beschreibt Ruderalflächen als krautige Vegetation anthropogen stark veränderter und/oder gestörter Wuchsplätze. Delarze et al. fassen die Ruderalstandorte als «Pioniervegetation gestörter Plätze» zusammen und unterteilt diese in Trittfluren, Ruderalfluren (Schuttstellen) und Lägerfluren. Auf letztere wird hier nicht weiter eingegangen. Der Begriff «Pionierflächen» werden i. d. R. für natürliche Standorte, «Ruderalflächen» für vom Menschen geschaffene Stellen verwendet.

Den unterschiedlichen Definitionen gemeinsam sind der meist spärliche Bewuchs mit entsprechend viel offenem Boden, die Dominanz lichtliebender, krautiger Pflanzen, eine dynamische Entwicklung und die fehlende regelmässige Nutzung. Man kann unterscheiden zwischen anthropogen entstanden und beeinflussten Ruderalflächen wie Abbaugebiete, Deponien, Baustellen, Verkehrsrandflächen, unbefestigten Wege und Industrieareale sowie natürlichen Lebensräumen mit «ruderalem» Charakter. Dazu zählen die von (periodischer) Dynamik geprägte Lawinenrunsen, Erosionshänge, Schutthalden, Gletschervorfelder, Schwemmebenen sowie die fluss- und bachbegleitenden Kies- und Sandbänke (Alluvionen). Im weiteren Sinn kann man auch sehr dauerhafte Pionierflächen wie Felsen dazuzählen. Auch Kleinstflächen wie Böschungsanrisse können wertvolle Strukturen sein mit Vorkommen seltener Arten.

In diesem Artikel wird ein Überblick zu den Pionierflächen geboten. In separaten Artikeln wird auf die Abbaugebiete, auf neu gestaltete Pionierflächen und bei den Fliessgewässern auf die Alluvionen eingegangen. Bei den Ruderalflächen gibt es fliessende Übergänge zum Grünland, zu den Säumen, zu den Schlagfluren sowie zum Acker. Pionierflächen findet man auch in den Rebbergen.

Praxisrelevante Ökologie

Der offene Boden ist, wie einleitend erwähnt, ein wichtiges Merkmal für Pionierflächen. Die Initialstadien sind wegen des geringen Konkurrenzdruckes meist reich an Pflanzenarten. Ruderalpflanzen vermögen gestörte, bzw. in der Naturlandschaft selten auftretende Wuchsorte zu besiedeln. Viele produzieren Unmengen an Samen, die zwecks Verbreitung häufig mit Anhängen (Haare, Flügel, Widerhäkchen usw.) versehen sind. Pflanzen der Trittfluren sind an mechanische Störungen angepasst durch Bildung flacher Rosetten, Ausläufern, Kriechwuchs, kurzen Lebenszyklen oder zeitlich gut verteilten Blühphasen. Pionierflächen weisen über das gesamte Sommerhalbjahr blühende Pflanzen auf und bieten dadurch den pollen- und nektarsammelnden Insekten eine permanente Nahrungsquelle an, auch während des blütenarmen Spätsommers (vgl. auch Saumbiotope und Ackerrandstreifen).

Ruderalflächen sind für viele Tierartengruppen wie Vögel, Reptilien Spinnen, Schmetterlinge, Heuschrecken und Wildbienen unentbehrlich (vgl. dazu die ausführlichen Angaben im Artikel zu den Abbaugebieten). In Guntern et al. (2020) gibt es dazu eine Zusammenstellung. Zahlenmässig die grösste Gruppe sind die Insekten. Die Qualität der offenen Bodenstellen spielt für Insekten eine wichtige Rolle. Besonders geeignet sind magere Stellen (sonst wachsen sie sofort wieder zu) und gut besonnte bis höchstens halbschattige Stellen, besser in geneigter Lage (z.B. Böschungen) als auf ebener Fläche. Das Optimum für bedrohte Vogelarten ist ein Anteil an 30 bis 70% an offenem Boden (vgl. Artikel Rebberge). Auch an feuchten Stellen ist für das Vorkommen seltener Arten magerer Boden Voraussetzung (vgl. «Feuchte Trittflur», weiter unten).

Ruderalflächen unterliegen einer schnellen Sukzession (Entwicklung). Auf die anfänglich dominierenden einjährigen Pflanzen folgen die grösser werdenden zwei- und mehrjährigen. Sehr bald kommen auch erste Gehölze auf (z. B. Weiden, Pappeln, Birken). Ohne menschliche Störungen entwickeln sich diese Standorte zu Waldformationen oder dichten Grasfluren.

Höchste Artenzahlen der Vegetation und Wirbellosenfauna und der höchste Anteil seltener und gefährdeter Arten stellt sich in frühen und mittleren Sukzessionsstadien ein.

Für Wildbienen sind Ruderalstandorte ökologisch sehr interessante Lebensräume. Von den ca. 745 bisher in Deutschland, Liechtenstein, Österreich und der Schweiz nachgewiesenen Wildbienenarten nisten 369 Arten (ca. 50%) in selbstgegrabenen Gängen im Boden.

Lebensräume

Delarze et al. (2015) zählen zur «Pioniervegetation gestörter Plätze» vier Ruderalfluren und je zwei Trittfluren und Lägerfluren. Intensität und Häufigkeit der mechanischen Störungen und die Menge der Nährstoffeinträge durch Mensch und Vieh sind für die Einteilung der verschiedenen Lebensraumtypen massgebend.


Ruderalfluren gemäss Delarze et al. 2015. Die für die Einteilung der verschiedenen Saumgesellschaften wesentlichen Faktoren sind die Wärmeverhältnisse, die Trockenheit und der Nährstoffgehalt des Bodens. Gefährdungsgrad: LC = nicht gefährdet, NT = potenziell gefährdet, VU = verletzlich, EN = stark gefährdet. Regenerationsdauer (R): R1 = < 5 Jahre, R2 = 5-10 Jahre (Quelle: Delarze et al., 2016. Rote Liste der Lebensräume der Schweiz). Informationen auf TypoCH.

Nr. Bezeichnung Gefährdung Regenerationsdauer
7.1.1 Agropyro-Rumicion
Feuchte bis nasse Ruderal- und Pionierstandorte
EN 2
7.1.2 Polygonion avicularis
Trockene Trittfluren
NT 2
7.1.3 Poion supinae
Subalpin-alpine Trittflur
LC 2
7.1.4 Sisymbrion
Einjährige Ruderalflur
VU 1
7.1.5 Onopordion
Trockenwarme Ruderalflur
EN 1
7.1.6 Dauco-Melilotion
Mesophile Ruderalflur
VU 1
7.1.7 Rumicion alpini
Alpine Lägerflur (Alpenblackenflur)
LC 2
7.1.8 Arction
Lägerflur der Tieflagen
EN 1

Auf die stark gefährdeten Vegetationseinheiten wird kurz eingegangen. Die Inhalte sind im Wesentlichen aus Delarze et al. 2015:

  • Die feuchte Trittflur (Agropyro-Rumicion) wächst auf feuchtem nährstoffreichem Lehmboden an nährstoffreichen Ufern, um periodisch versumpfende Stellen in Weiden, auf feuchten Wegen oder in sumpfigen Brachen. Eine geschlossene Pflanzendecke wird durch mechanische Störungen oder regelmässig wiederkehrenden Überschwemmungen verhindert. Die seltenen, wärmeliebenden Arten dieses Vegetationstyps sind auf magere Verhältnisse angewiesen.
  • Für die trockenwarme Ruderalflur (Onopordion) sind hochwüchsige Disteln und Beifuss Arten charakteristisch. Sie wachsen auf anthropogen beeinflussten, nährstoffreichen Schutt- und Bracheflächen, die älter als zwei Jahre sind. Ihre Vorkommen sind auf sehr warme Gegenden beschränkt.
  • Die LägerfIur der Tieflagen (Arction) wächst auf nährstoffreichem Boden in Industrie- und Siedlungsgebieten sowie in Weiden. Sie ist insbesondere wegen der vielen spätblühenden Arten für die Insekten wichtig.

Ruderalflächen können ganz unterschiedliche Standortverhältnisse aufweisen, von extrem trocken bis extrem nass und von nährstoffreich bis nährstoffarm. Sie haben oft einen gestörten Bodenaufbau ohne natürliche Horizontabfolge. Klötzli et al. (2010) empfehlen deshalb eine standörtliche statt einer vegetationskundlichen Unterscheidung der Ruderalvegetation.


Erhalt, Aufwertung und Pflege

Ein wichtiger Faktor für die Erhaltung von Ruderalflächen ist unsere Toleranz ihnen gegenüber. Der Einsatz von Herbiziden, unsere Ordnungsliebe und die Vernachlässigung von Ruderalflächen sind oft Ursache für Verluste , sei es in Parks, Gärten, in Industriegebieten, entlang von Strassen oder im Landwirtschaftsgebiet.

Verkehrsrandflächen (Autobahn-, Strassen-, Bahn-, Flugplatzgrün) machen ca. 4% der Siedlungsfläche aus. Ein Teil davon sind Ruderalflächen. 6% der Gehölz freien Grünflächen entlang von Gleisen sind Ruderalflächen. Diese Zahlen unterstreichen das grosse Potential für die Förderung dieses Lebensraums.

Es sollen bewusst neue Ruderalflächen angelegt werden, z. B. durch weniger Versiegelung oder durch Verzicht auf (teure) Humusierung (siehe separater Artikel Ruderalflächen).

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Entsiegelung von Flächen in der Stadt Bern.

Pflege

Ein zweiter wichtiger Faktor für Erhalt und Förderung ist die richtige Pflege. Natürliche Pionierflächen sind dynamisch und erfahren regelmässige Störungen, was als Vorlage für die Pflege anthropogener Ruderalflächen verwendet werden kann. Dies bedeutet gleichzeitig, dass es schwierig ist, den Unterhalt in ein Schema zu packen. Es verlangt situatives Vorgehen, abhängig von den Zielen und der Entwicklung einer Fläche, die sehr unterschiedlich schnell sein kann. Es gibt verschiedene Möglichkeiten an Unterhalt:

  • Nichts tun: Eine Ruderalfläche entwickeln lassen (Bemerkung: natürliche Pionierflächen benötigen keine Pflege)
  • Störungen des Bodens in einem Abstand von ein paar Jahren.
  • Allenfalls Mahd oder Beweidung

Bei der Pflege kann man sich daran orientieren, dass Ruderalflächen viel offenen Boden aufweisen sollten. Detaillierte Angaben zur Pflege hat es im Artikel «Ruderalflächen». Diese sind zwar spezifisch für neu angelegte Flächen, lassen sich im Grundsatz aber auch auf andere Flächen anwenden.

Biodiversitätsförderflächen (BFF)

Ruderalflächen können als BFF angemeldet werden. Details dazu siehe hier, in der Wegleitung «Biodiversitätsförderung auf dem Landwirtschaftsbetrieb» (Agridea 2023) oder in «Biodiversitätsfördernde Strukturen im Landwirtschaftsgebiet».

Literatur

  • Agridea (Hrsg.), 2017. Biodiversitätsfördernde Strukturen in der Landwirtschaft. Eine Übersicht zu Strukturelementen gemäss Direktzahlungsverordnung (DZV).
  • Brandes, D., 2007. Ruderalvegetation – Dynamik ohne Grenzen?
  • Bundesamt für Umwelt (BAFU), n.d. Verwendungsverbote für Unkrautvertilgungsmittel auf und an Strassen, Wegen, Plätzen, Terrassen und Dächern (Faktenblatt).
  • Delarze, R., Eggenberg, S., Steiger, P., Bergamini, A., Fivaz, F., Gonseth, Y., Guntern, J., Hofer, G., Sager, L., Stucki, P., 2016. Rote Liste der Lebensräume der Schweiz. Aktualisierte Kurzfassung zum technischen Bericht 2013 im Auftrag des Bundesamtes für Umwelt (BAFU). Bern.
  • Delarze, R., Gonseth, Y., Eggenberg, S., Vust, M., 2015. Lebensräume der Schweiz: Ökologie - Gefährdung - Kennarten, 3., vollst. überarb. Aufl. ed. Ott, Bern.
  • Grün Stadt Zürich, Fachbereich Naturschutz, 2010. Pflegeverfahren. Ein Leitfaden zur Erhaltung und Aufwertung wertvoller Naturflächen, Leitfaden. Zürich.
  • Grün Stadt Zürich (Hrsg.), 2019. Mehr als Grün. Profilkatalog naturnahe Pflege.
  • Guntern, J., Lachat, T., Daniela, P., Fischer, M., 2013. Flächenbedarf für die Erhaltung der Biodiversität und der Ökosystemleistungen in der Schweiz. Forum Biodiversität Schweiz, Akademie der Naturwissenschaften (SCNAT), Bern.
  • Guntern, J., Pauli, D., Klaus, G., Hrsg.: Forum Biodiversität Schweiz (SCNAT), 2020. Biodiversitätsfördernde Strukturen im Landwirtschaftsgebiet. Bedeutung, Entwicklung und Stossrichtungen für die Förderung. Bern.
  • Hansruedi Wildermuth, 1978. Natur als Aufgabe: Leitfaden für die Naturschutzpraxis in der Gemeinde. Schweizerischer Bund für Naturschutz, Basel.
  • WWF Schweiz (Hrsg.), 2010. Lebendige Trockenstandorte mit Sand, Kies und Schotter. WWF Schweiz.
  • Jedicke, E., 1989. Brachland als Lebensraum, Natur erleben. Maier, Ravensburg.
  • Kanton St.Gallen – Amt für Natur, Jagd und Fischerei (Ed.), 2020. Handbuch ökologischer Unterhalt.
  • Klötzli, F., Dietl, W., Marti, K., Schubiger-Bossard, Walther, G.-R., 2010. Vegetation Europas Das Offenland im vegetationskundlich-ökologischen Überblick, 1. Auflage. ed. Ott Verlag, Bern.
  • Kollmann, 2019. Renaturierungsökologie. Springer Berlin Heidelberg.
  • Leugger, S., Buser, H., 2009. Konzept naturschutzgerechter Böschungsunterhalt SBB. Schlussbericht.
  • Tschäppeler, S., 2021. Natur braucht Stadt: Berner Praxishandbuch Biodiversität.
  • WildBee, 2017. Erdnistende Wildbienen - Anlegen von offenen Bodenflächen, Sandhaufen, Randkanten, überhängenden Abrissen und Steilhängen etc. Leutwil.
  • Zurbuchen, A., Müller, A., 2012. Wildbienenschutz: von der Wissenschaft zur Praxis, Bristol-Schriftenreihe. Haupt, Bern.